Leseprobe Autobiografie

Auszug aus der Autobiografie

Berlinerin mit Herz und Schnauze“

(Für diese Leseprobe wurden die Namen geändert.)

Zu jener Zeit war ich mit Hella Schüttmeier befreundet. Sie wohnte bei uns um die Ecke – in der Bergstraße, die heute Prühßstraße heißt. Hella war etwas kleiner als ich und entschieden pummeliger. Ihre Familie muss ziemlich arm gewesen sein, denn sie lebte in einer düsteren und nicht sehr großen Kellerwohnung. An weitere Einzelheiten kann ich mich nicht erinnern; ich weiß nur noch, dass Hella mehrere Geschwister hatte.

Trotz oder vielleicht gerade wegen dieser nicht gerade vorteilhaften Lebensumstände verfügte meine Mitschülerin über eine beachtliche Portion Selbstbewusstsein und das dazu passende kecke Mundwerk. Ich bewunderte und beneidete sie deswegen, denn ich stand mir damals recht häufig selbst im Weg, da ich viel zurückhaltender war als Hella. Dadurch geriet ich auch immer wieder in Situationen, in denen ich mich am liebsten in ein Mäuseloch verkrochen hätte.

So lief ich zum Beispiel wochenlang stumm wie ein Fisch an meinem ersten Schwarm vorüber! Ach, ich wagte noch nicht einmal, ihn richtig anzusehen, wenn er mir begegnete. Und dabei war ich felsenfest davon überzeugt, dass ich in diesen hübschen Jungen verliebt war, ja, dass ich ihn vielleicht sogar richtig liebte. Denn dieses Gefühl musste doch einfach die viel gepriesene Liebe sein: Dieses Herzklopfen, diese Wärme, die mich von einer Minute auf die andere durchströmte, wenn ich seinen Lockenkopf unter der Schülermütze nur aus der Ferne sah. Andererseits waren diese spontanen Hitzewellen auch häufig der Grund dafür, dass ich unübersehbar errötete.

Der Verursacher meiner Gefühlswallungen hieß Horst Behrend, das hatte Hella mithilfe ihres jüngsten Bruders ausgekundschaftet. Zwei Lakritzstangen und eine wunderschöne große Glasmurmel hatte mich das detektivische Wirken dieses Bruders gekostet, aber das war es mir wert gewesen. Zusätzlich erfuhr ich, dass besagter Horst das Oberrealgymnasium in der Kaiserstraße besuchte. Und dass seine Familie in der Monopolsiedlung in einem hübschen Reihenhaus wohnte. Damit war mir nun klar, warum ich ihn jeden Morgen zur immer gleichen Zeit an der immer gleichen Stelle treffen musste. Er kam aus der Monopolsiedlung und wollte in die Kaiserstraße, während Hellas und mein täglicher Schulweg die Chausseestraße – den heutigen Mariendorfer Damm – entlangführte. Unser Ziel war die Mittelschule in der Kurfürstenstraße. Unser täglicher Treffpunkt befand sich also immer zwischen Kaiser- und Königstraße, kurz bevor Horst Behrend, der sich stets in Begleitung von zwei oder manchmal auch drei Schulkameraden befand, in die Königstraße einbog.

Was mach’ ich bloß?“, flüsterte ich Hella eines Tages zu, nachdem ich wieder einmal stumm und mit gesenktem Blick, aber mit rosarot gefärbtem Gesicht und klopfendem Herzen an meiner heimlichen Liebe vorbeigelaufen war. „Das kann doch nicht bis in alle Ewigkeit so weitergehen. Es muss irgendwas passieren. Aber was?“

Hella lächelte bedeutungsvoll. „Ganz einfach“, wisperte sie geheimnisvoll zurück, obwohl die Jungen bereits außer Hörweite waren. „Du musst ihn erst mal ermuntern, dir seine Liebe zu gestehen. Danach sagst du ihm, dass du ihn auch liebst. Und schon seid ihr ein Paar!“, verkündete sie triumphierend.

Ich schüttelte verständnislos den Kopf. „Wie soll ich das denn anfangen?“

Ein Gedicht“, erwiderte Hella mit vielsagender Miene. „Du überreichst ihm ein Liebesgedicht. Dann weiß er Bescheid und kann dir auch eins geben. Vielleicht schon am nächsten Tag. Wäre das nicht wunderbar?“

Ich seufzte. Das wäre in der Tat ganz wunderbar, dachte ich. Vielleicht dichtet Horst ja sogar selbst, überlegte ich hoffnungsvoll. Und dann fabriziert er möglicherweise ein paar Verse eigens für mich!

Einige Tage später zur gleichen Zeit, am gleichen Ort und mit den gleichen Hauptpersonen …

Hör zu“, sagte ich mit feierlicher Stimme zu Hella, während ich auf den Zettel in meiner Hand blickte. „Das Gedicht geht so: ‚Gib dein Herz für keine Krone, gib es einem, der dich liebt, gib es dem nur, der zum Lohne dir sein eignes dafür gibt.’ Wie findest du das?“ Erwartungsvoll sah ich meine Freundin an.

Hella nickte begeistert. „Ja, das ist schön. Dein Horst wird sich freuen. Und dann …“ Plötzlich unterbrach sie sich selbst und blickte angestrengt die Chausseestraße hinunter. „Ich glaube, da kommen sie schon“, raunte sie mir zu.

Und richtig! Horst näherte sich mit zwei Schulfreunden. Saß seine Schülermütze heute besonders unternehmungslustig auf seinem Kopf, oder kam mir das nur so vor? In meiner schweißnassen Rechten hielt ich krampfhaft den Zettel, auf dem ich mein kleines Liebesgedicht für Horst mit allerschönster Schönschrift aufgemalt hatte. Die Jungen kamen immer näher. Meine Aufregung wuchs von Sekunde zu Sekunde. Ich fühlte mein Herz überlaut klopfen und hörte mein Blut in den Ohren rauschen.

Ich kann nicht“, wisperte ich plötzlich in weinerlichem Tonfall. „Ich kann ihm das Gedicht nicht geben. Ich glaube, ich kippe gleich um. Ja, ich werde ohnmächtig! Auf der Stelle! Mach du das, Hella“, stieß ich hervor, während ich ihr den leicht feuchten und bereits ziemlich zerdrückten Zettel zusteckte.

Für einen Moment glaubte ich, dass meine Freundin ebenfalls der Mut verlassen hatte und sie einen Rückzieher machen würde. Hella stand nämlich wie zur Salzsäule erstarrt und schaute unschlüssig auf den Zettel in ihrer Hand. Doch dann schien sich ihr Körper plötzlich zu straffen, ihr Blick richtete sich wieder nach vorn. Unternehmungslustig sah sie den näher kommenden Jungen entgegen. Ich glaubte sogar, ein Lächeln auf ihrem Gesicht erkennen zu können. Etwas zaghaft zwar, aber immerhin: Hella lächelte. Sie hatte sogar die nötige Ruhe, um so lange zu warten, bis Horst mit ihr auf einer Höhe war. Dann erst hielt sie ihm den Zettel entgegen. Und jetzt war ihr Lächeln auch nicht mehr zu übersehen. „Für dich!“, sagte sie laut und deutlich, während ich stumm und mit hochrotem Kopf danebenstand.

Horst Behrend nahm den Zettel mit ungerührter Miene entgegen. Mich schien er überhaupt nicht wahrzunehmen, doch auch Hella bedachte er lediglich mit einem flüchtigen Blick. Das ganze Szenarium dauerte nur wenige Minuten. Vielleicht waren es ja auch nur Sekunden. Wie ein Spuk war auf einmal alles vorbei, die Jungen waren weg, und Hella und ich standen an der Straßenecke und blickten uns unsicher lächelnd an.

Das war’s“, stellte Hella fest. Sie wirkte zufrieden. „Nun musst du nur noch drauf warten, was Horst dir zu sagen hat.“

Ich nickte und seufzte. Einerseits war ich erleichtert, dass wir die Angelegenheit endlich hinter uns gebracht hatten, andererseits konnte ich mich eines dumpfen Gefühls nicht erwehren, das mir sagte, dass irgendetwas schief gelaufen war. Nachdenklich nagte ich an meiner Unterlippe. Plötzlich durchfuhr es mich siedend heiß. „Hella, oh nein! Hella, weißt du, was gerade passiert ist?“, rief ich entsetzt.

Meine Freundin blickte mich fragend an. „Was ist denn los?“

Du hast Horst das Gedicht gegeben! Du! Und nicht ich! Jetzt denkt er doch, dass du ihn liebst!“ Ich war völlig aufgelöst.

Hella nickte bedächtig. „Stimmt“, sagte sie leise. „Oh mein Gott, was machen wir denn nun?“

Wir dachten lange nach, aber uns fiel nichts ein. Also beschlossen wir, uns am nächsten Schultag wieder wie gewohnt an der Ecke Kaiser- und Königstraße aufzustellen und der Dinge beziehungsweise der Jungen zu harren, die da kommen sollten.

Sie kamen tatsächlich. Und sie waren wie immer pünktlich. Horst Behrend war natürlich unter ihnen. Das Trüppchen schlenderte an uns vorüber, alles war wie sonst, niemand schaute uns an, keiner sagte ein Wort. Und ein Zettel wurde weder Hella noch mir übergeben. Nicht an diesem Morgen und auch nicht an irgendeinem anderen …

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