Leseprobe Erinnerungen

Auszug aus den Erinnerungen an eine Kindheit im Berlin der 20er-Jahre

Titel: Hinterhof, drei Treppen, links

(Für diese Leseprobe wurden die Namen geändert.)

Die vierte Erinnerung: Valentino oder Wie ich einen Freund rettete

Es war an einem sonnigen Nachmittag im zeitigen Frühjahr. Wir schrieben das Jahr 1928. Ich war gerade acht Jahre alt. Obwohl die Zeit meiner Kindheit später häufig mit dem Begriff „Goldene Zwanziger“ umschrieben wurde, habe ich diese Jahre durchaus nicht als „golden“ in Erinnerung. Der Krieg war gerade mal zehn Jahre vorüber. Und es gab eigentlich kaum eine Familie, in der er nicht irgendeine schmerzhafte Spur hinterlassen hatte.

Mein Vater zum Beispiel hatte in Frankreich sein rechtes Bein verloren. Das bedeutete, dass er seinen erlernten Beruf als Schlosser nicht mehr ausüben konnte. Also fing er in einer Zeitungsredaktion als Pförtner an und hoffte, später dort vielleicht eine Ausbildung zum Drucker machen zu können. Meine Mutter dagegen fand als gelernte Modistin jahrelang überhaupt keine Anstellung.

Kurz gesagt: Das Haushaltsgeld war stets knapp, dafür hatte sich in der bis dahin gerade mal zwölfjährigen Ehe meiner Eltern ein überreicher Kindersegen eingestellt! Denn außer mir gab es noch zwei ältere Brüder und zwei jüngere Schwestern. Zu allererst wurde natürlich an der Miete gespart. Somit wohnten wir in einer typischen „Mietskaserne“. Da wir nur zwei Zimmer und eine Kammer hatten, spielte sich das gesamte Familienleben in der Küche ab. Und in eben dieser Küche mit Blick auf den grauen Hinterhof beginnt meine Geschichte …

Oh, Susanna! Wie ist das Leben doch so schön! Oh, Susanna! Wie ist das Leben schön!“, klang es vom Hof herauf. Obwohl das Küchenfenster geschlossen war, konnte ich die tiefe Männerstimme, die da sang, gut hören. Begleitet wurde sie von den Klängen einer Drehorgel. Auf der Stelle stürzte ich ans Fenster, öffnete es und schaute hinunter.

Der Leierkastenmann ist da! Der Leierkastenmann ist da!“, ertönte es aus mehreren Küchenfenstern gleichzeitig. Auch die Tür vom Treppenhaus zum Hof öffnete und schloss sich unaufhörlich. Im Nu war der Drehorgelmann von Kindern umringt. Ein Leierkasten! Hofmusik! Ja, das war damals etwas Besonderes! Auch mich hielt es nun nicht mehr in der Küche. So schnell ich konnte, rannte ich die Treppe hinunter. Und dann stand ich endlich mit vor Aufregung laut klopfendem Herzen vor dem Mann mit der Drehorgel. Doch die Musik, die aus dem Leierkasten kam und der Gesang des Mannes waren ja nicht alles, was sich meinen entzückten Augen und Ohren bot. Nein, das Schönste war der niedliche Affe, der auf dem Leierkasten thronte! Ein kleines Äffchen, nicht größer als eine Katze, das in einer winzigen dunkelblauen Uniform steckte. Sogar ein dazu passendes blau-weißes Schirmmützchen mit goldfarbener Kordel hatte der Knirps auf dem Kopf.

Der sieht ja aus wie ein kleiner Kapitän!“, meinte ein älterer Nachbarjunge, der direkt neben mir stand, in bewunderndem Tonfall. Ich hatte zwar bis zu diesem Tag noch keinen leibhaftigen Kapitän gesehen, aber mein Vater hatte sich zum letzten Faschingsvergnügen im Schrebergartenverein als Kapitän verkleidet. Und ich hatte ihn in diesem sehr dekorativen Kostüm sehr bewundert. Von diesem Tag an war ein Kapitän für mich etwas ganz Feines! Und nun hatte dieser kleine Affe eine ebenso elegante Uniform an. Fasziniert betrachtete ich ihn. Er schien mich ebenfalls gründlich zu mustern.

Wie heißt denn Ihr Affe?“, erkundigte sich der Nachbarjunge bei dem Drehorgelmann, der gerade eine Pause eingelegt hatte.

Valentino“, antwortete der Mann. Es klang stolz. Dann zeigte er auf ein Schild, das neben der Drehkurbel am Leierkasten befestigt war. „Und das bin ich“, fügte er hinzu, während er seinen Mund zu einem Grinsen verzog. „Ich komme jetzt jeden Mittwoch auf euren Hof. Meine Tour liegt so, dass ich immer am frühen Nachmittag hier sein werde!“

Ich nickte erfreut und betrachtete interessiert das Schild. Max Tiedtke, las ich, Unterhaltungsmusik für jede Gelegenheit! Und dann folgte der Name einer Berliner Straße, von der ich wusste, dass sie in einer Gegend der Stadt lag, in der sich zu dieser Zeit die ärmlichsten „Mietskasernen“ mit den meisten Hinterhöfen befanden.

In der Zwischenzeit hatten mehrere Leute aus den umliegenden Küchenfenstern Groschen und Fünfer als Lohn für den Drehorgelmann auf unseren Hof geworfen. Meist hatte man das Geld zuvor in ein Stück Zeitungspapier gewickelt, damit es auf dem Katzenkopfpflaster nicht übersehen werden konnte. Und jedes Mal, wenn so ein verpacktes Geldstück mit leisem „Klack“ auf den Steinen landete, sprang der kleine Affe, flink wie ein Wiesel, vom Leierkasten herunter, flitzte zu der Münze hin, hob sie auf und beseitigte rasch das Papier. Anschließend steckte er das Geldstück in seine Jackentasche und kehrte sofort zum Leierkasten zurück. Dort legte er das Kleingeld zu den anderen Münzen auf einen Teller. Und jedes Mal, wenn er ein Geldstück auf diesen Teller fallen ließ, stieß das Äffchen seltsame Laute aus. Mir war so, als wenn er „Guckguckguck!“ oder so ähnlich rief. Auf jeden Fall hörte sich Valentinos Ruf sehr lustig an. Ja, es war gerade so, als wenn er sich darüber freute, dass die Einnahmen für seinen Besitzer im wahrsten Sinne des Wortes im Blechteller „schepperten“.

Manchmal verbarg sich allerdings kein Geldstück in dem Papierfetzen. Denn natürlich hatten die Zuschauer von ihren Fenstern aus rasch mitbekommen, dass ein kleiner Affe auf dem Hinterhof herumhüpfte. Und so fand Valentino statt Geld ab und zu ein Stück Zucker, ein paar Rosinen oder sogar eine Walnusshälfte in dem Papier. In diesem Fall ertönte ein anderer Freudenschrei, den ich als „Schmeckweckweck“ in Erinnerung habe. Wir Kinder amüsierten uns köstlich. Ein Affe in Uniform, der Geld apportierte, der sogar „sprechen“ konnte – unsere Begeisterung kannte keine Grenzen!

Doch leider gab es auch ein paar Jungen auf unserem Hof, die sich mit dem Äffchen einen Scherz erlauben wollten. So versuchten sie zum Beispiel immer wieder, den kleinen Kerl an seinem langen Schwanz zu ziehen. Natürlich ärgerte Valentino sich darüber. Und ich erinnere mich genau, dass seine Augen einen misstrauischen, ja, fast bösen Ausdruck annahmen, wenn einer der Jungen zu sehr in seine Nähe kam. Wobei der offensichtliche Unwille in seinem kleinen faltigen Gesicht noch zusätzlich durch ein leises, sehr intensives Fauchen und Zischen verstärkt wurde. Die Jungs lachten zwar abfällig über Valentinos Verhalten, aber es wagte trotzdem keiner, ihn gegen seinen Willen zu berühren. Denn mit seinen spitzen Zähnchen wollte offenbar niemand Bekanntschaft schließen!

Da die Jungen nach einer Weile merkten, dass sie mit ihren Neckereien doch nicht so recht zum Zuge kamen, dachten sie sich einen neuen Streich aus: Sie warfen aus den Fenstern Knöpfe oder winzige Kohlenstückchen – in Papier gewickelt – auf den Hof. Natürlich sauste der kleine Affe in freudiger Erwartung auf eine Münze oder einen Leckerbissen stets wie ein Blitz zu der Stelle, auf welcher der im Papier steckende Knopf oder das Kohlenstückchen gelandet waren. Doch man stelle sich seine Enttäuschung vor, wenn er in dem Papierfetzen irgendetwas fand, das er weder genüsslich verzehren noch seinem Herrn auf den Blechteller werfen konnte! Valentino beschnupperte dennoch jedes Mal seinen Fund ausgiebig. Anschließend ließ er ihn von einer Hand in die andere gleiten, um ihn gründlich zu befingern und interessiert zu betrachten. Dann trug er sowohl die Knöpfe als auch die Kohlenstückchen zum Leierkasten und legte die Sachen neben den Teller. „Quiwiwiwiiii“, hörte man ihn dazu leise murmeln. Ich weiß noch genau, dass ich ganz traurig wurde, weil ich fand, dass Valentinos Laute irgendwie so ratlos, ja, eigentlich sogar richtig bekümmert klangen.

Max Tiedtke schüttelte unwirsch den Kopf, wenn der Affe mit dem Inhalt eines solchen „Scherzpaketes“ ankam. „Wieder nur Dreck“, zischte er mit beleidigter Miene und warf die Kohlenstückchen in hohem Bogen auf das Hofpflaster. Die Knöpfe dagegen ließ er kommentarlos in seiner Hosentasche verschwinden.

Nachdem die Jungen den kleinen Affen vier oder gar fünf Mal an der Nase herumgeführt hatten, konnte ich seinen traurigen Blick und sein verständnisloses „Quiwiwiwiii“ einfach nicht mehr ertragen. Deshalb rannte ich schnell die drei Treppen bis zu unserer Wohnung hoch. In dem Zimmer, in dem ich mit meinen beiden Schwestern schlief, legte ich mich flach auf den Boden und angelte einen alten Schuhkarton unter meinem Bett hervor. Meine Schatzkiste! Neben ein paar Ansichtskarten, meinem Poesiealbum, zwei Anziehpuppen aus Papier und einem hübschen, aber restlos geleerten Parfümflakon, das ich mal im Volkspark unter einer Bank gefunden hatte, bewahrte ich in dieser Schachtel noch einen speziellen „Schatz“ auf: eine ganz besonders große Erdnuss! Ich hatte nämlich in der letzten Adventszeit eine Tüte Erdnüsse auf dem Weihnachtsmarkt geschenkt bekommen. Von einer netten Marktfrau, der ich ein wenig beim Verkaufen geholfen hatte. Dabei war es für mich ein echter Spaß gewesen, ihre Äpfel und Nüsse kiloweise auszuwiegen. Zumal sie mir erlaubt hatte, dabei die erste Orange meines Lebens zu verzehren. Und ich hätte nie geglaubt, dass ich am Schluss noch ein Geschenk bekomme! Also zog ich stolz mit meinen „fremdländischen“ Nüssen nach Hause, wo ich meinen Schatz natürlich unter meinen gierigen Geschwistern aufteilte.

Aber diese riesengroße Nuss hier, die lasst ihr der Martha!“, ordnete meine Mutter an, indem sie auf ein wirklich ungewöhnlich dickes Exemplar einer Erdnuss zeigte.

Und wehe, ich höre von Martha, dass einer von euch ihr die Nuss geklaut hat! Der kann was erleben!“, drohte mein Vater zusätzlich.

Ich bin mir heute noch sicher, dass ich es lediglich dieser Warnung zu verdanken hatte, dass meine Nuss die folgenden Monate überlebte. Manchmal hatte ich sie in die Hand genommen und leicht geschüttelt. Dann war stets ein klapperndes Geräusch zu hören gewesen. Meine Nuss lag in ihrem Schalenhaus und wartete darauf, dass ich sie essen würde. Aber ich tat es nicht. Und nun wusste ich, warum ich die Erdnuss noch nicht geknackt hatte: Sie, die bemerkenswerteste Nuss, die ich mir vorstellen konnte, sollte nämlich in wenigen Minuten dem liebenswertesten Affen, den ich jemals kennengelernt hatte, gehören!

Als ich Valentino aufgeregt meinen Schatz hinhielt, sah er erst die Nuss und dann mich aufmerksam an. Seine kleinen dunklen Augen glitten immer wieder flink von meinem Gesicht zu der Nuss in meiner Hand und zurück.

Fein, Valentino! Feines Nüsschen!“, ermunterte Max Tiedtke den Affen, während er mir einen wohlwollenden Blick zuwarf.

Der Affe zögerte noch ein paar Sekunden, dann siegte seine Neugier, und er streckte die kleine runzlige Hand nach der Erdnuss aus. Ich gab sie ihm vorsichtig. Valentino roch an der Schale, schaute mich an, schnupperte wieder und – ich glaubte meinen Augen nicht trauen zu können – der kleine Affe machte genau das Gleiche, was ich in all den Monaten zuvor schon so oft getan hatte: Er hielt sich die Nuss ans Ohr und schüttelte sie kräftig!

Ich musste lachen. „Ja, was ist denn da drin?“, lockte ich. „Ist denn das was Feines für den Valentino?“

Guckguckguck“, antwortete er lebhaft. „Schmeckweckweck“, fügte er verzückt hinzu. Dann begann der Kleine, mit seinen Zähnchen die Nussschale unendlich vorsichtig Stückchen für Stückchen abzulösen. Ich sah ihm hingerissen zu. Wenig später hatte er es geschafft: Der Nusskern lag in seiner Hand! Valentino betrachtete ihn begehrlich, doch aus irgendeinem Grund ließ er sich noch etwas Zeit, bevor er ihn verzehrte. Ich weiß, dass es merkwürdig klingt, wenn ich das so sage, aber ich hatte den Eindruck, als ob sich das Äffchen bei mir erst für das Geschenk bedanken wollte. Und richtig: Valentino legte plötzlich seine freie Hand auf meinen Arm, schaute mir ins Gesicht und rief „Uihjuihjuihjuih!“. Dabei spitzte er seine Lippen, was sehr komisch aussah. Ich musste lachen.

Herr Tiedtke meinte, dass sich der Kleine riesig freuen würde. „Das hat er schon lange nicht mehr gerufen“, erklärte er mir. „Beim letzten Mal, als ich diesen Ausruf von ihm hörte – es muss jetzt ein Jahr her sein – da hatte ihm ein Feinkosthändler das erste Stück Banane seines Lebens geschenkt“, fügte der Drehorgelmann erklärend hinzu.

Und dann knabberte Valentino wie eine Maus die große Erdnuss bis auf den letzten Krümel weg. Ich schaute ihm dabei begeistert zu, und es tat mir nicht eine einzige Sekunde leid, dass ich meinen Schatz verschenkt hatte.