Auszug aus der Romanbiografie
„Nicht jeden Tag war Kaiserwetter“
Diese Biografie hat die Kindheit und Jugend von Anna B. (1877 bis 1965) bis zu ihrer Hochzeit zum Inhalt. Da trotz einiger erfolgreicher Recherchen das Wissen über das Leben dieser Frau nicht ausreichte, um eine Biografie im herkömmlichen Sinne verfassen zu können, bat mich der Urenkel von Anna B., die ersten zwanzig Jahre des Lebens seiner Urgroßmutter als Roman aufzuschreiben.
(Für diese Leseprobe wurden die Namen geändert.)
Emilie Bartelt lag im Ehebett und starrte auf den breiten Rücken der Hebamme, die das Neugeborene mit routinierten Bewegungen wickelte. Sie bemühte sich angestrengt, die Augen, die ihr vor Müdigkeit immer wieder zufallen wollten, offen zu halten.
„Noch nich einschlafen, Frau Bartelt!“ Wie von weit her drang die Stimme der alten Fabienke an das Ohr der Wöchnerin. „Ick bin gleich fertich. Bloß noch det Tuch festzurren. So. Und nu bring ick Ihnen det kleene Menschlein.“
Emilie riss die Augen noch weiter auf. Jetzt war das lächelnde Gesicht der Hebamme ganz nah. Ihre massigen Armen streckten ihr ein weißes Bündel entgegen, das die Form einer riesenhaften, fetten Raupe hatte, einer Raupe mit einem rosigen Kopf, der von zwei winzigen Fäusten flankiert war.
„Nu nehmen Se schon, Frau Bartelt. Et is allet dran. Et ist jesund, so wahr ick hier stehe.“
„Machen Sie ’s doch nicht so spannend, Frau Fabienke.“ Emilie Bartelt unterdrückte ein Stöhnen, während sie sich ein wenig aufrichtete, um der Hebamme den Säugling abzunehmen. „Wat is et denn nu? Sagen Sie ’s doch schon! Is et endlich ein Junge?“
Die Frau zögerte einen Moment, dann schüttelte sie resolut den Kopf. „Nee, et is ’n Meechen, Frau Bartelt! Und ein besonders scheenet dazu. Und nu machen Se mal keen Pfeffer mang de Mausekacke, jute Frau.“ Die Hebamme wandte sich ab und begann, ihre Sachen einzupacken. „Danken Se Jott, det allet jut jejangen is. Der Herr hat et eben so jewollt. Punktum!“
Emilie seufzte schwer. Ratlos betrachtete sie das Neugeborene in ihrem Arm. Wieder bloß ein Mädchen! Dabei war sie sich in den vergangenen neun Monaten doch so sicher gewesen, dass sie dieses Mal den lang ersehnten Stammhalter bekommen würde. Hieß es denn nicht, dass ein fleckiges Gesicht während der Schwangerschaft auf die Geburt eines Knaben hindeuten würde? Deshalb hatte sie diese hässlichen rot-braunen Flecken, die sich bereits wenige Wochen nach der Schwangerschaftsdiagnose eingestellt hatten, auch so tapfer ertragen. Und Wilhelms Hosenträger, die sie dieses Mal sofort aus dem Fenster des Dachbodens gehängt hatte, nachdem sie wusste, dass sie wieder mal in anderen Umständen war – sollte dieses Ritual denn gar nichts bewirkt haben? Ihre Schwester Hedwig hatte es mit den Hosenträgern ihres Mannes doch auch so gemacht. Und dann prompt den gewünschten Sohn geboren. Auch bei der Müllern soll es deswegen mit einem Jungen geklappt haben, erzählen die Frauen im Dorf. Nur bei ihr ist es schief gegangen. Oh Gott, warum? Warum wieder nur ein Mädchen?
„So, ick bin fertich, Frau Bartelt. Nu machen Se mal jefälligst ’n dankbaret Jesicht. Det war hier nämlich ’ne Jeburt und keene Beerdijung. Ick hole Ihnen jetzt Ihre Familje rin, ja?“
Emilie nickte matt. „Schönen Dank ooch für Ihre Mühe, Frau Fabienke“, sagte sie kaum hörbar. Das Sprechen schien ihr schwer zu fallen. „Mein Mann kommt die Tage vorbei und bringt Ihnen det Jeld.“
„Is jut.“ Die Hebamme stand bereits mit Kapotthut und Schultertuch ausgehfertig angekleidet an der Zimmertür. In der einen Hand trug sie eine abgewetzte bauchige Ledertasche mit einem fleckig glänzenden Metallbügel und in der anderen eine ebenso schäbig wirkende Reisetasche aus besticktem Gobelin. Sie nickte der Wöchnerin noch einmal kurz zu. „Ick jeh denn also. Bleiben Se jesund, Sie und det Kleene. Und nischt for unjut, Frau Bartelt.“
Die alte Fabienke hatte die Tür kaum hinter sich geschlossen, als diese erneut stürmisch geöffnet wurde. Eilige Kinderfüße trappelten heran. „Mama! Mama! Is det Kindeken endlich da? Wat is et denn? Ein Brüderchen?“, ertönte es mehrstimmig.
Die Mutter schüttelte den Kopf. Ihr Lächeln fiel etwas schief aus.
„Etwa noch ’ne Schwester?“ Die achtjährige Alma stöhnte und verdrehte theatralisch die Augen. Dann setzte sie die kleine Lene, die sie während der ganzen Zeit auf dem Arm getragen hatte, auf dem Fußboden ab. Das Kind krabbelte umgehend unter das Bett, wo es sofort begann, das glücklicherweise ungefüllte Nachtgeschirr einer gründlichen Untersuchung zu unterziehen.
Hulda, für ihre fünf Jahre viel zu klein und entschieden zu pummelig, nagte an einem Brotkanten und beäugte ihre neue Schwester argwöhnisch. Es stand ihr auf der Stirn geschrieben: Auf einen zusätzlichen Esser in ihrer Familie konnte sie gern verzichten.
Die siebenjährige Martha mit den tiefblauen Augen und dem wohlgeformten Näschen war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten und damit die Hübscheste der vier Mädchen. Sie schien sich als Einzige über den Familienzuwachs zu freuen. „Ach, ist die goldig“, flüsterte sie, während ihr Zeigefinger zart über die Wange des Säuglings strich.
„Ja, det stimmt“, pflichtete Alma ihrer Schwester bei. „Goldig is se. Und außerdem kann det arme Wurm ja nüscht dafür, det se bloß ’n Meechen is.“
Eine Weile blickten die drei älteren Töchter schweigend auf den schlafenden Säugling. Sogar Lene unter dem Bett hatte aufgehört, mit dem Emailletopf zu rumoren.
„Nu brauchen wir bloß noch ’n Namen für die Kleene“, sagte Mutter Bartelt plötzlich in die Stille hinein. „Denn Paul oder Karl, det jeht ja nu nich mehr.“
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